Dr. Marie-Emmanuelle Reytier †
Dr. Marie-Emmanuelle Reytier
24. Januar 1971 – 4. Oktober 2012
Am 24. Januar 2012 wurde Marie-Emmanuelle Reytier 41 Jahre alt. Diesen Geburtstag wollte sie in Hamburg verbringen, wo sie im Dezember 2011 eintraf, um ihr DFG-Projekt zu religiösen Konversionen in Frankreich abzuschließen. In den Jahren vor Beginn dieses Projektes hatte sich Marie-Emmanuelle Reytier seit ihrer Maîtrise im Fach Geschichte (1993) an der Universität Jean Moulin – Lyon III und ihrem Studium an der Universität in Heidelberg schwerpunktmäßig mit dem deutschen Katholizismus auseinandergesetzt. In ihrem Diplôme d’études approfondies, das sie 1994 erwarb, untersuchte sie „Les Katholikentage en Allemagne, 1848-1933“. Ihr Masterstudium schloss sie an der Universität Oxford 1996 mit einer Arbeit zur Entwicklung einer politischen Identität der deutschen Katholiken im Kaiserreich mit Auszeichnung ab (Preis des Wadham College/Oxford im Juni 1996). Promoviert wurde sie schließlich in einem bi-nationalen Promotionsverfahren (co-tutelle) an der Universität Jean Moulin – Lyon III im Jahr 2005 mit der Arbeit „Les catholiques allemands et la République de Weimar: les Katholikentage, 1919-1932“.
Parallel zu ihren religions- und politikgeschichtlichen Arbeiten setzte sie sich mit autobiographischen Texten auseinander und schrieb biographische Artikel zu deutschen und französischen Katholiken. Weiter beschäftigte sie sich mit transnationalen Vergleichen und mit der Geschichte der internationalen Frauenbewegung. 2005 lud ich sie zu einem Workshop über Konversionen nach Hamburg ein und blieb seitdem mit ihr in Kontakt. Marie-Emmanuelle Reytier war damals auf der Suche nach einem neuen Arbeitsfeld und einer Postdoc-Stelle. Sie wurde assoziiertes Mitglied der Forschergruppe „Selbstzeugnisse in transkultureller Perspektive“ (Freie Universität Berlin) und plante mit mir ein Projekt zu religiösen Konversionen in Frankreich im 19. Jahrhundert. Bei meinen Forschungen zu religiösen Konversionen im deutschen Sprachraum hatte sich gezeigt, dass der deutsch-französische Grenzraum eine besondere Rolle bei der Veröffentlichung und der Diskussion von katholischen Konversionsberichten spielte. Wir entwickelten einen Antrag, der im Februar 2008 bei der DFG eingereicht wurde. Fragen nach Netzwerken katholischer Konvertiten in Frankreich und Deutschland, nach der Rolle von Verlagen und Übersetzungen sowie nach Funktionen und Bedeutungen veröffentlichter Konversionsberichte versprachen im transnationalen und transepochalen Vergleich interessante Ergebnisse.
Für ihre Forschungen warb Marie-Emmanuelle Reytier mehrere Stipendien in Frankreich, Deutschland und Kanada ein, sie arbeitete als Gastdozentin an der Universität in Vechta (2006), als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität in Mainz (2006-2007) und als Visiting Professor an der Universität Opole/Oppeln in Polen (2007-2009). Sie sprach und lehrte gerne auf Englisch, Französisch und Deutsch, wurde zu vielen internationalen Tagungen eingeladen und stellte sich schnell auf verschiedene Wissenschaftskulturen ein.
Im September 2009 trat sie ihre Wissenschaftliche Mitarbeiterstelle an der Universität Hamburg an. Die Schwierigkeiten, die durch ihren internationalen Lebenslauf bei der Anstellung in Deutschland auftraten, nahm Marie-Emmanuelle Reytier ebenso mit Humor wie die Herausforderungen, die sich aus den Fragen nach dem Hauptwohnsitz und dem zuständigen Finanzamt ergaben. Sie verstärkten bei ihr jedoch den Eindruck, keine berufliche Zukunft in Europa zu haben. Auch wenn sie seit 2009 wieder in Frankreich und in Deutschland forschte, alte wissenschaftlichen Kontakte reaktivierte und neue knüpfte: Langfristige Berufschancen sah sie für sich in Kanada, wo sie von 2007 bis 2009 an der Universität Laval in Québec gearbeitet und seitdem permanentes Arbeits- und Aufenthaltsrecht hatte.
Den Plan, gekürzte Fassungen ihrer Dissertation auf Deutsch und Französisch zu veröffentlichen, konnte sie nicht mehr verwirklichen. Einige ihrer Arbeiten, die sie vor 2009 fertig gestellt hatte, und die sich schwerpunktmäßig mit der Politik-, Religions- und Kulturgeschichte Deutschlands und Frankreichs im 19. und 20. Jahrhundert beschäftigen, werden noch publiziert werden, so z.B. ein Aufsatz in englischer Sprache über die französische Journalistin Louise Weiss (1893-1983) und eine Studie über die deutsche Politikerin Helene Weber (1881-1962). In der Zeitschrift „Kirchliche Zeitgeschichte“ wird 2013 ein Aufsatz von ihr über Konversionen in Frankreich erscheinen.
Mitten in ihrem arbeitsreichen Leben wurde sie kurz vor Weihnachten 2011 im UKE in Hamburg mit einer niederschmetternden Diagnose konfrontiert. Sie entschied sich, die empfohlene Therapie im Januar 2012 in Kanada zu beginnen. Bis zuletzt blieb Marie-Emmanuelle Reytier optimistisch, dass sie geheilt werden könnte. Wir hofften mit ihr, bis uns die Nachricht ihres Todes am 4. Oktober 2012 erreichte. Wir vermissen sie und sind allen dankbar, die sie in ihren letzten Monaten begleitet und unterstützt haben.
Am 24. Januar 2013 wäre Marie-Emmanuelle Reytier 42 Jahre alt geworden.
Hamburg, im Januar 2013 Angelika Schaser