TP 3: Überfälle
TP3 Titel: Morgen-Grauen. Der „Überfall“ als historischer Typus von Gewalt und seine Zeitstrukturen
Projektleitung: Prof. Dr. Christoph Dartmann und Prof. Dr. Markus Friedrich
Wissenschaftlicher Mitarbeiter: Alexander May M.A.
Mit Begriffen wie „Überfall“, „raid“ und „chevauchée“ wird eine Gewaltform beschrieben, die sich durch eine ganz eigene zeitliche Signatur auszeichnet: Ihr Erfolg basiert auf der Geschwindigkeit der Angreifer und der Überraschung der Überfallenen. Wo der angekündigte und ritualisierte Gewaltausbruch eines Pogroms seinen Opfern noch Zeit zur Vorbereitung lässt, ist der plötzliche Überfall auf die Arglosigkeit der Betroffenen angewiesen. Solche Angriffe erfolgten daher nicht nur „dort, wo“, sondern vor allem „dann, wenn“ sie niemand erwartete.
Das Teilprojekt nähert sich diesem Gewalttypus auf konzeptueller Ebene. Ziel ist es, die Zeitstrukturen des „Überfalls“ exemplarisch zu charakterisieren und herauszuarbeiten, wie eng dessen Ausübung, Erleben und Beschreiben mit Fragen des „timing“ verknüpft sind. Hierfür werden die Durchführung und Wahrnehmung der „Wikinger“-Überfälle im 9. und 10. Jahrhundert sowie des franko-indianischen Kleinkriegs in Nordamerika im 17. und 18. Jahrhundert in vergleichender Perspektive untersucht. Zu welchen Jahres- und Tageszeiten wurden „Überfälle“ durchgeführt? Wie generierten „Indianer“ und „Wikinger“ das so wichtige Moment der Überraschung? Wie deuteten die Überfallenen diese plötzliche Eruption der Gewalt? Und was geschah, wenn sich diese Angriffe so stark häuften, dass die Überraschung zunehmend erwartbar wurde?
Mit seinen Überlegungen zur (Zeit-)Struktur des „Überfalls“ beabsichtigt das Projekt, über die mittelalterliche bzw. frühneuzeitliche Geschichte hinaus Denkanstöße zu geben und die Konzeption dieses Gewalttyps grundsätzlich zu hinterfragen. Es fällt nämlich auf, dass die als „Überfall“ bezeichnete Gewalt trotz ihrer historischen Verbreitung nie als „normales“, anerkanntes Format der Kriegsführung erschien. Vielmehr wurden bereits die „Wikinger“-Angriffe des 9. und 10. Jahrhunderts in zahlreichen Quellen als „hinterlistig“ kritisiert. Und auch die „Überfälle“ durch „Indianer“ wurden als Formen einer „anderen“ Gewaltausübung beschrieben, die eine Bedrohung europäischer Lebensgewohnheiten darstellte. „Überfälle“ gelten bis heute als subversive Form der Gewalt, die sich „Partisanen“ und „Rebellen“ zunutze machen; heute haben sie ihren Platz im Kontext der „asymmetrischen“, „Neuen“ oder Guerilla-Kriege.
All diese Bezeichnungen dienen der semantischen Marginalisierung bestimmter Gewaltformen, die von der ‚eigentlichen‘ Gewaltlogik des modernen Staates abweichen – und damit der Abwertung derer, die sie ausüben. Die Konzeption einer angeblich illegitimen Kriegsführung erfüllt daher auch im Othering bestimmter Gewaltakteure eine wichtige Funktion. Es ist eine Grundidee des Teilprojekts, dass diese Uneigentlichkeit überfallartiger Gewalt wesentlich mit den spezifischen Zeitstrukturen des Überfalls zusammenhängt. Diese Alterisierung zu historisieren und seine Vorgeschichte in der europäischen Geschichte zu beleuchten, sind daher zentrale Anliegen.
In seinem Dissertationsprojekt erforscht Alexander May die „Wikingerüberfälle“ auf das Gebiet des Fränkischen Reichs und seiner Nachfolgereiche im 9. und 10. Jahrhundert. Die Zeitlichkeit dieser Angriffe wird dabei auf zwei sich ergänzenden Ebenen untersucht: Zum einen als Struktur des konkreten Gewalthandelns, zum anderen auf einer übergeordneten Deutungsebene, die von theologischen und eschatologischen Motiven bestimmt wird. In einem zweiten Schritt werden diese „Überfälle“ mit den ungarischen Einfällen ins ostfränkische Reich sowie denen der Sarazenen im Mittelmeerraum verglichen. Prof. Dr. Markus Friedrich wird einen Aufsatz zur Gewaltschilderung in der Missionsliteratur Neufrankreichs beisteuern, der es erlaubt, die Spezifik der „Wikinger“-Erfahrungen im interepochalen und transregionalen Vergleich zu vertiefen. Prof. Dr. Christoph Dartmann und Prof. Friedrich werden zudem einen konzeptionellen Aufsatz zur Spezifik des Überfalls als Gewalttypus vorlegen.