TP 1: Belagerungen
TP1 Titel: Warten? Belagerungen und Zeitlichkeit
Projektleitung: Prof. Dr. Birthe Kundrus und Prof. Dr. Burkhard Meißner
Wissenschaftliche Mitarbeiterinnen: Dr. phil. Olga Sturkin und Kristin Kirchbach, M.A.
In der Belagerung wird die Zeit selbst zur Waffe. Ist eine Stadt erst einmal von der Außenwelt abgeriegelt, muss der Angreifer Durchbruchsversuche vermeiden und nur noch abwarten, bis die Eingeschlossenen ihre Ressourcen aufbrauchen, bevor sie angesichts von Hunger und Zermürbung kapitulieren. Die Belagerten warten ihrerseits: auf den nächsten Angriff, günstigere Wetterbedingungen, militärischen oder göttlichen Beistand. Wer länger durchhält, gewinnt, und in der Regel versuchen daher beide Seiten zu demonstrieren, sie besäßen alle Zeit der Welt. Doch die scheinbar ruhige Wartezeit trügt, denn tatsächlich herrscht Ressourcenknappheit – und damit Zeitnot – auf beiden Seiten. Lebensmittel, Munition und menschliches Kapital sind nicht nur auf Seiten der Eingeschlossenen eng begrenzt. Auch vom Belagerer fordert diese Art der Gewalt die Konzentration enormer Ressourcen, und auch ihn kann das Durchhalten an seine Grenzen führen. Die strategische Störung oder Zerstörung von Verkehrswegen, Nachschub, Ver- und Entsorgung bedeuten daher für beide Seiten eine überlebenswichtige Beschleunigung bzw. Entschleunigung des Geschehens.
Trotz der enormen Bedeutung, die zeitliche Dynamiken für diese Gewaltform besitzen, spielt die temporale Dimension in der Forschung zur Belagerung bislang kaum eine Rolle. Das Teilprojekt fragt daher nach den charakteristischen Zeitstrukturen der Belagerung. Welchen Einfluss übte Zeitlichkeit für militärisches und ziviles Gewalthandeln in Belagerungskontexten aus? Welche Dynamiken, welche Rhythmen prägten das Gewaltgeschehen? Wann und warum wechselten sich Phasen des Wartens und der Beschleunigung ab? Und welchen Einfluss hatte die besondere Zeitlichkeit der Belagerung für deren Ablauf und Erfahrung, Deutung und Erinnerung?
Um diese Fragen zu beantworten, stellt das Projekt systematisch zwei Fallbeispiele gegenüber, die aufgrund ihrer langen Dauer die Frage nach ihren zeitlichen Strukturen herausfordern: Zum einen den Krieg zwischen Demetrios Poliorketes und Rhodos (305–304 v. Chr.) und zum anderen die fast 900-tägige Blockade Leningrads durch die deutsche Wehrmacht (1941–1944). Beide Fälle sollen vergleichend untersucht werden – nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer historischen Distanz und offenkundigen Unterschiedlichkeit. Denn wo sonst die Differenzen, etwa in technologischer Hinsicht, ins Auge springen, vermutet das Teilprojekt für die Gewaltform der Belagerung einen gemeinsamen Wesenskern in der temporalen Dimension: in den Zeitkategorien, die ihr Erleben bestimmten, und in der Art, wie mit den eigenen und den Zeitressourcen des Gegners umgegangen wurde.
Kristin Kirchbach untersucht Belagerungen der griechischen Antike ausgehend von der Belagerung von Rhodos im Rahmen eines Dissertationsprojekts, wobei das Werk des griechischen Geschichtsschreibers Diodor eine zentrale Rolle einnimmt. Olga Sturkin erforscht im Rahmen eines Post-Doc-Projekts die Belagerung von Leningrad. Eine zentrale Quelle stellen dabei die Kriegstagebücher der 18. Armee der Wehrmacht dar, ergänzt um Nachlässe hoher Militärs sowie soldatische Tagebücher und Briefe. In enger Zusammenarbeit mit den Projektleiter:innen Prof. Dr. Birthe Kundrus und Prof. Dr. Burkhard Meißner wird die Vergleichsstudie der Belagerungen realisiert. Das Wissen, das im Projekt um die militärischen temporalen Ordnungen und Erfahrungen entsteht, wird in gemeinsame Aufsätze einfließen.