Arbeitsgruppe "Geschichte der Genealogie"
Die Genealogie ist in vielen Kulturen eine grundlegende soziale Praxis. In menschlichen Gesellschaften haben sich über Zeit und Raum hinweg Praktiken und Medien ausgebildet, um das Wissen über vergangene und gegenwärtige Verwandtschaftsbeziehungen, Geschlechter und Geschlechterverhältnisse zu kultivieren und darzustellen. Die Gründe hierfür sind vielfältig, wobei Aspekte des Eigentums und der Legitimität eine zentrale Rolle spielen. In den zugrunde liegenden Argumentationen wirken häufig soziale, politische, religiöse oder gesellschaftliche Privilegien mit imaginären oder realen Blutlinien zusammen. Während in muslimischen Gesellschaften beispielsweise die genealogische Abstammung vom Propheten Steuerprivilegien beinhalten konnte, dienten genealogische Argumentationen europäischen Dynastien dazu, das Recht auf die Herrschaft über Territorien und Staaten zu begründen. Im mittelalterlichen China der Tang-Dynastie hing die politische und soziale Vorherrschaft der kaiserlichen Aristokratie in hohem Maße von offiziell sanktionierten und registrierten Genealogien ab.
Auch wenn die spezifischen Praktiken, Medien und Funktionen der Herstellung, Präsentation und Anwendung von explizitem Verwandtschaftswissen ("Genealogie") in all diesen Kontexten unterschiedlich sind, gibt es doch viele Gemeinsamkeiten: All diese Beispiele zeigen, dass sich Menschen um Gruppen von Individuen kümmern, die als "Familie" oder "Verwandtschaft" betrachtet werden und die über die kleine Gruppe der biologischen Eltern und unmittelbaren Bezugspersonen hinausgehen. Der Mensch kultiviert häufig Wissen über diese erweiterte Gruppe von "Verwandten", und zwar oft auf genealogische Weise, d. h. durch Hervorhebung von Abstammungsbeziehungen. "Ancestrality" (Hans Ruin) ist ein Grundmerkmal menschlicher Existenz, und die Genealogie ist eine ihrer wichtigsten Erscheinungsformen. In der Arbeitsgruppe „Geschichte der Genealogie“ soll das Phänomen der Genealogie in dieser vielfältigen Weise interdisziplinär und kulturübergreifend diskutiert und untersucht werden.
English version:
Genealogy is a basic social practice in many cultures. Across time and space, human societies established practices and media for cultivating and presenting knowledge about past and present kin. Humans do so for a wide range of reasons and motives, with aspects of property and legitimacy playing a central role. In the underlying arguments, social, political, religious, or social privileges are often connected to imagined or real bloodlines. While in Muslim societies, for instance, genealogical descent from the Prophet could include tax privileges, genealogical arguments served European dynasties to establish the right to rule over territories and states. In Tang-era medieval China, meanwhile, the imperial aristocracy’s political and social dominance depended greatly on officially sanctioned and registered genealogies.
While the specific practices, media, and functions of making, presenting, and deploying explicit kinship knowledge (“genealogy”) vary in all these contexts, there is still much common ground: all these examples demonstrate that humans care for groups of individuals considered as “family” or “kin” that extend beyond the small group of biological parents and immediate caretakers. Humans frequently cultivate knowledge about this extended group of “relatives”, and they often do so in genealogical ways, that is by highlighting relationships of descent. “Ancestrality” (Hans Ruin) is a basic feature of human existence, and genealogy is one of its most important manifestations. The research group “History of Genealogy” will discuss and examine the multifaceted phenomenon of genealogy from an interdisciplinary and cross-cultural perspective.