Schlachtfeld Nordfrankreich: Kriegserinnerungsorte von Lothringen nach Flandern (Mittelalter – 20. Jahrhundert)Eine Fotoreportage
31. August 2023, von Raja Nicolaisen
Vom 03.07.-08.07.2023 sind Mitglieder der Forschungsgruppe „Gewalt-Zeiten: Temporalitäten von Gewaltunternehmungen“ und Studierende des deutsch-französischen Geschichtsstudiengangs „HamBord“ gemeinsam auf Exkursion gegangen.

Ziel war die Erkundung von Erinnerungsorten entlang der Frontlinie im Ersten Weltkrieg. Wir sind mit der Bahn von Hamburg nach Köln gereist und dort in einen Minibus gestiegen, der uns durch Lothringen und Nordfrankreich gefahren hat – mit Übernachtungen in Saint-Mihiel, Reims, Péronne, Arras und Lille. An jedem Ort haben Studierende Impulsreferate gehalten, die uns einen Einblick vom vielfältigen Kulturerbe Frankreichs vom Mittelalter bis in die Zeitgeschichte gegeben haben.

Auch jenseits der Erinnerungsorte an den Ersten Weltkrieg gab es ein buntes Programm: von einer Sammlung antiker Reliefs in einem stimmungsvollen Provinzmuseum

oder einer mittelalterlichen Kirche bis zu einer der vom französischen Baumeister Vauban gebauten Zitadellen zur Verteidigung des Reichs Ludwigs XIV.

und weiteren neuzeitlichen bis zeitgenössischen Bauten und Denkmälern.

Gleich am ersten Abend wurden wir mit der Todesstille im Wald des Saillant de Saint-Mihiel konfrontiert,

wo die Schützengräben (Tranchée des Bavarois et de Roffignac, Tranchée de la Soif) in beeindruckender Weise uns veranschaulichten, wie nah aneinander die Feinde waren: Es lagen ab und zu kaum mehr als 30 bis 50 m zwischen Deutschen und Franzosen, die sich sehen, hören und gegenseitig belauschen konnten. Der folgende Tag wurde zwei Hauptorten der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg gewidmet: Verdun und Douaumont.

Am dritten Tag besichtigten wir morgens Reims, die Krönungsstadt der französischen Könige;

dann sind wir dem Chemin des Dames entlanggefahren, den wir – auf eine Aussichtsplattform gestiegen – auch aus der Vogelperspektive erfassen konnten.

Dort mischen sich Erinnerungen an die napoleonische Zeit und an den Ersten Weltkrieg. Nach einer Mittagspause in der Ruine der Zisterzienserabtei von Vauclair sind wir über Coucy-le-Château nach Péronne gereist.

Am vierten Tag waren wir in der Picardie und im Artois und am fünften im Département Nord und in Flandern. Es gab nicht nur einen kurzen Ausflug nach Belgien, um das In Flanders Fields Museum in Ypern zu besichtigen, sondern wir sind auf der Rückreise auch über die malerische Stadt Mechelen gefahren, auf den Belfried der Kathedrale Sint-Rombout gestiegen, wo wir einen wunderschönen Ausblick bis nach Antwerpen und Brüssel sowie ein ohrenbetäubendes Carillon-Konzert genießen konnten.

Dann wurde es Zeit, zurück nach Hamburg zu kehren!

Uns sind nicht nur der Kampf der Nationen, sondern auch die Versöhnung der Völker gegenwärtig gewesen. Wir alle haben Bilder im Kopf, die dies symbolisieren: De Gaulle und Adenauer in Reims oder Kohl und Mitterrand in Douaumont. Über letztgenannten Ort flattert nun nicht nur die französische Fahne, sondern auch die deutsche und die der Europäischen Union – denn wir sind vor dem Tod alle gleich:

Dies ist die beeindruckende Botschaft des internationalen Gefallenenmahnmales in Notre-Dame-de-Lorette bei Arras, Anneau de la Mémoire genannt, wo knapp 580 000 Namen in alphabetischer Reihenfolge ohne Rang- oder Nationalitätsangabe aufgelistet sind.

Doch wurde uns ebenso das Ausmaß der kriegerischen Hybris greifbar: Heute noch gibt die Erde tonnenweise Munition jährlich zurück; völlig umsonst wurde 1917 mit der Burg Coucy eine der schönsten und mächtigsten Burganlagen aus dem Mittelalter gesprengt. Die Vielfalt der national konnotierten Erinnerungskulturen haben wir auch erlebt: Wie stolz die Kanadier in Vimy den Erhalt des Friedens für sich in Anspruch nehmen

oder wie unterschiedlich die nah beieinanderliegenden Friedhöfe verschiedener Nationen sind:

hier eine schlichte, aber doch feierliche französische Stätte, dort eine blumenreiche Anlage des Commonwealth oder eine bedrückende Grabstätte für deutsche Soldaten, wo Kreuze und Grabsteine mit Davidstern nebeneinander stehen und damit die Gesellschaft vor 1933 widerspiegeln.

Wie der Krieg umgedeutet werden kann, hat uns das Totendenkmal in Bouvines (bei Lille) gezeigt: Hier wird eine Schlacht im Jahr 1214 in Verbindung mit der Schacht bei der Marne sieben Jahrhunderte später gebracht.

Wir haben viel Zeit in unterirdischen Anlagen verbracht:

mal eine Zitadelle, mal eine kleinere Festung, mal ehemalige Steinbrüche, die die Kriegsparteien als Bunker für ihre Truppen in Vorbereitung auf einen Angriff umwidmeten und ausbauten. Jedes Abtauchen in die Unterwelt war eine andere Erfahrung: Wir waren beispielsweise mit den Deutschen in der „Drachenhöhle“

und mit den Neuseeländern in der Carrière de Wellington am Stadtrand von Arras.

Der unterschiedliche museale Umgang mit dem Thema „Erster Weltkrieg“ hätte kaum größer sein können: von der Hightech-Inszenierung in der Citadelle souterraine von Verdun und vom physischen Erlebnis des schweren Gehens an der Front durch einen aus Kunststoff nachgeahmten matschigen Weg im Museum von Douaumont bis zur düsteren Dokumentation der Schäden, die heute immer noch von Munition verursacht werden, in Ypern oder zur sehr hellen und hochinformativen Ausstellung im Historial de la Grande Guerre in Péronne, das am deutlichsten veranschaulichte, wie sehr sich die Maßnahmen der involvierten Staaten und deren Auswirkungen auf das alltägliche Leben in den verschiedenen Gesellschaften ähnelten.

Selbstverständlich gab es auch Momente der Entspannung

und Überraschungen,

obwohl unsere Exkursion sich hauptsächlich mit Erinnerungsorten von Krieg, Leiden und Tod befasste.

Umso trauriger ist es, dass diese Erfahrung nach einer langen Zeit des Friedens in Europa heute wieder aktuell ist: Nationalismus und Imperialismus gehören leider nicht zur Vergangenheit, und an der Front in der Ukraine wiederholt sich der Horror von Verdun.
Philippe Depreux