Topografien kindlicher Lebenswelten in der Sowjetunion (1950-1985)
Monica Rüthers
Topografien kindlicher Lebenswelten in der Sowjetunion (1950-1985)
Schweizer Nationalfonds-Einzelprojekt 101511-109501/1 – Laufzeit 3 Jahre
In den sowjetischen Raumordnungen waren Kindern ganz bestimmte Räume zugewiesen. Im zentralen öffentlichen Raum tauchten sie fast nur in organisierten Kollektiven auf. Zugleich fällt bei der Arbeit mit Fotografien und Bildbänden aus der Sowjetzeit ins Auge, dass Kinder eine ganz bestimmte, wichtige Rolle spielten, etwa das Kind als Neuer Mensch, als Verkörperung der Zukunft. Das wirft die Frage nach den Räumen auf, die Kinder zur Verfügung hatten.
Der Ansatz der Topografie oder Landschaft
Das Vorhaben nähert sich dem Thema Kindheit mit einem „topografischen“ Ansatz, der Kindheit als „Landschaft“. Erst der Blick konstituiert die Landschaft als Objekt. Sie ist ein Produkt menschlicher Wahrnehmung und kulturell vorbedingt. Sie wird imaginiert und idealisiert. Die Grundlage, der Rohstoff dafür, der Prozess der Konstitution und die Rückkopplung, die Transformation von Kindheit/Landschaft gemäss der Wunschvorstellungen sind die Themen des Projekts. Kindheit ist eine imaginäre Topografie und ein durch und durch kulturelles Konstrukt.
Die Wahrnehmung liefert kein realistisches Bild weil der Betrachter die imaginäre Geografie bestätigt finden möchte. Innere Vorstellungen und äussere Welt verschränken sich miteinander. Diese Geografie des Imaginären gibt es in allen Kulturen. Mythische Räume des modernen Bewusstseins erscheinen im Film und in der Werbung, in Kunst und Literatur. Sie formen die Fiktion, die vor der Wahrnehmung und der Erfahrung steht. Damit zusammen hängt ein weiteres Spezifikum, das ebenfalls in den Ansatz einer „Landschaft“ oder Kindheitstopografie passt: der Blick auf Kindheit ist immer retrospektiv, er ist aus einer Distanz heraus möglich. Diese Distanz schliesst aber das „Problem“ der laufenden Neubewertung der eigenen Kindheit mit ein. Hier ist noch zu unterscheiden zwischen dem kollektiven Blick auf Kindheit und dem individuellen Blick, der die eigene Kindheit einerseits an den kulturellen Vorgaben misst, andererseits an späteren Entwicklungen und Erfahrungen.
Kindheit als Konstrukt, Kinder als Akteure
Thema ist neben dem Konstrukt von Kindheit auch das Kind als Akteur. Zwei Fragekomplexe ergänzen die Unterscheidung zwischen Konzept und Akteur: 1. Räume: Welches sind die Räume, die Kindern zugemessen wurden, welche Räume konstituierten sie sich selbst als Räume kindlichen Eigensinns? 2. Bilder: Welche Rolle spielte das Kind als Motiv in sowjetischen Bildwelten, welche Motive dominierten die Bildwelten sowjetischer Kinder? Wie drückten Kinder ihren Eigen-Sinn gegenüber den sozialisationslastigen sowjetischen Erziehungskonzepten aus?
Der doppelte Zugang zu Kind und Kindheit in der Sowjetunion soll an örtlich begrenzten, regionalen Beispielen des europäischen Russlands umgesetzt werden.
1. Räume: Mikrohistorische Studien von Stadtvierteln und einzelnen “Höfen” in einer Grossstadt und in einer Provinzstadt des europäischen Russland bieten sich hier an, ebenso wie Ferienlager und Pionierpaläste je in Moskau und einer Provinzstadt. Insbesondere die Ferienlager eignen sich für eine international vergleichende Perspektive. Spannend wird die Einbettung in soziologische Diskurse, generationale Ordnungen und Familienkonstellationen (Rolle der Mütter, Väter und Grossmütter, Wohnsituation) sein.
2. Bilder: Die von der sowjetischen Gesellschaft für die Kinder vorgesehenen Räume waren von ganz bestimmten Bildkombinationen besetzt. Deren Analyse ist als Ikonografie sowjetischer Kindheit vorgesehen. Um 1960 veränderten sich die sowjetischen Bildwelten. Es kam zu einer radikalen Dynamisierung, die stark von Technikkult und den Erfolgen in der Raumfahrt geprägt war. Dabei wurden Motive aus der Raumfahrt wie Raketen häufig mit Kindern kombiniert, dominierten aber auch die spezifisch für Kinder geschaffenen Topographien. Neben dem Motivkomplex Kind und Kosmos werden Konstruktionen sowjetischer Kindheit in Fotoalben untersucht. Als Quellenbasis dienen einerseits institutionelle Fotoalben, die als Berichte über Ferienlager der Pionierorganisation in diesen Lagern erstellt wurden. Diese werden verglichen mit Kindheitsnarrativen in sowjetischen Familienalben.
Zielsetzung
Die Erforschung kindheitsbezogener Konzepte über Symbolkomplexe, Rauminstallationen und Bildwelten rekonstruiert Vorstellungen und Mythen von Kind und Kindheit. Über diese hinaus soll sie den Zugang zu einer kindzentrierten historischen Kindheitsforschung ermöglichen. Erfahrungen, Wahrnehmungen, Deutungen und eigene (Gegen?)welten von Kindern sollen über die Konstitution von Räumen und Bildern durch die Kinder selbst erforscht werden. Die Arbeit soll neue Quellen und Methoden für die historische Kindheitsforschung erschliessen.
Kind und Kindheit erscheinen als universelle Kategorien. Sind sie das wirklich? Die vergleichende Perspektive auf Kinder-Lagerkulturen, kindliche Bildwelten und Topographien soll unterschiedliche Konzepte von Kindheit herausarbeiten, aber auch Varianten kindlichen Eigen-Sinns.
Anhand der "Spezialgeschichten" der für Kinder bereitgestellten räumlichen Anordnungen sowie der typischen sowjetischen Verbindung der Motive von Kindern und Weltraum-Raketen und der mit der Losung von der „glücklichen Kindheit“ verbundenen Symbolkomplexe soll über eine Kindheitsgeschichte hinaus exemplarisch dargestellt werden, in welchem Maße die Führung der Sowjetunion darauf angewiesen war, ihre Herrschaft durch positiv besetzte Bilder im Alltag an Erfahrungswelten bestimmter Bevölkerungsgruppen zurückzubinden und durch das Versprechen einer glorreichen Zukunft abzustützen. Der Untersuchungszeitraum (1950-1985) ergibt sich einerseits aus dem eigentlichen Entwicklungsgang des Motivkomplexes. Andererseits wurde diese Zeit in der westlichen zeithistorischen Forschung als Periode des Übergänge von der spätstalinistischen Nachkriegsgesellschaft zur Entstalinisierung zur Stagnation des politischen Systems bewertet. Diese Studie widmet sich dem Zusammenhang von Herrschaftssicherung und kultureller Praxis der Kindheit der Sowjetunion nach Stalin.
[1] Der Neue Mensch. Obsessionen des 20. Jahrhunderts. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Hygiene-Museum Dresden. Hg. Von Nicola Lepp, Martin Roth und Klaus Vogel. Dresden 1999. Darin wird etwa die Duncan-School in Moskau angeführt (S. 170). Die Beiträge zur Sowjetunion sind allerdings nicht besonders vertiefend.
Torsten Rüting: Pavlov und der Neue Mensch : Diskurse über Disziplinierung in Sowjetrussland. Oldenbourg 2002.
- Dauer: abgeschlossen
- Projektleitung: Prof. Dr. Monica Rüthers